„Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich notwendig ist.“
Am siebten Oktober 2023 wurden in Israel auf einem Tanzfestival etwa 1200 Juden von Hamas-Terroristen auf bestialische Weise niedergemetzelt, Frauen wurden vergewaltigt und viele Teilnehmer wurden nach Gaza entführt. Es war der schlimmste Terrorakt gegenüber Juden seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich hatte erwartet, dass am nächsten Tag die Empörung groß sein würde, dass der Terrorakt der Hamas verurteilt wird und man sich mit Israel solidarisiert. Aber so gut wie nichts geschah, nirgendwo, auch in der Kulturszene nicht. Es herrschte dröhnendes Schweigen. Erst am 27. Oktober wurde ein offener Brief von Kulturschaffenden veröffentlicht, der sich gegen Antisemitismus, Judenhass und Relativierung von Verbrechen wandte.
Vorher, am 22. Oktober, hatte es in Berlin eine Demonstration vor dem Brandenburger Tor gegeben, die zur Solidarität mit Israel aufrief und den Hamas-Terror verurteilte. Auch hier dachte ich, dass das eine mächtige Demonstration werden würde, dass es wegen der Menge einen Rückstau die Straße des 17. Juni entlang bis zur Siegessäule geben würde. Tatsächlich kamen nur einige tausend Teilnehmer. Das ist verwunderlich, wenn man sieht, wie jetzt bei Demonstrationen gegen rechts bis zu hunderttausend Teilnehmer erscheinen. Wo waren die eigentlich nach dem 07. Oktober? Und da habe ich mir eine Frage gestellt, die sich bestimmt viele schon oft gestellt haben. Wie war es eigentlich möglich, dass in der Nazizeit sechs Millionen Juden von Deutschen ermordet wurden? Die Zeit nach dem 07. Oktober hat mir die Antwort gegeben. Dazu zitiere ich einen Satz des Journalisten Henryk M. Broder. „Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger leiden kann, als es an sich notwendig ist.“
In Deutschland gibt es offensichtlich, was die Einstellung zu Juden betrifft, damals wie heute, drei Bevölkerungsgruppen. Der eine Teil ist offen antisemitisch, verbal und physisch, der zweite Teil, und das ist der größte Teil, ist nicht offen antisemitisch, aber er kann die Juden nicht leiden. Er hat Vorurteile und Ressentiments gegen die Juden. Und deshalb verhält er sich gleichgültig und empathielos, wenn den Juden Schreckliches widerfährt. Und dann gibt es noch den dritten, weitaus kleineren Teil, der gegen Antisemitismus ist und etwas dagegen unternimmt. Die bittere Erkenntnis, die sich für mich aus dem 07. Oktober ergeben hat, ist: Die Einstellung der Deutschen gegenüber den Juden hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht grundsätzlich geändert.
Hartmann Schmige
17.02. 2023